E.-D. Hehl: Gregor VII. und Heinrich IV. in Canossa 1077

Cover
Titel
Gregor VII. und Heinrich IV. in Canossa 1077. Paenitentia – absolutio – honor


Autor(en)
Ernst-Dieter Hehl
Reihe
Monumenta Germaniae historica. Studien und Texte
Erschienen
Wiesbaden 2019: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
XXII, 142 S.
Preis
€ 35,00
von
Georg Modestin, Fachschaft Geschichte, Kantonsschule Freudenberg (Zürich)

Der hier anzuzeigende schmale Band aus der «kleinen roten» Studien-und-Texte-Reihe der MGH ist einer aktualisierten historischen Diskussion entwachsen. Der «Gang nach Canossa» ist spätestens seit dem Kulturkampf zu einer deutschen Redewendung geworden, die sich gegenüber dem ursprünglichen Entstehungszusammenhang zwar nicht völlig verselbständigt hat, die aber auch ohne genaueres Hintergrundwissen verwendet wird: «nach Canossa gehen» bzw. «den Gang nach Canossa antreten» bedeutet so viel wie «auf erniedrigende Weise Reue zeigen und sich entschuldigen müssen» (so beispielsweise auf redensarten.net). Angespielt wird dabei auf die Anstrengungen des gebannten Königs Heinrich IV., der sich im Januar 1077 vor der auf einem Felsen am Rand des Appenins gelegenen Burg Canossa einfand, um als Büsser von Papst Gregor VII. die Rekonziliation mit der Kirche zu erreichen. Um die in der deutschen Historiographie viel debattierte Episode aus dem sogenannten Investiturstreit, der aber selbst im Laufe der Januar-Ereignisse – den erhaltenen Quellen nach zu urteilen – nicht im Vordergrund stand, «war es», so Ernst-Dieter Hehl, «bis vor einigen Jahren ruhiger geworden» (1); auch lag die einschlägige Dokumentation gewissermassen auf dem Tisch.
Interessanterweise ist die Fokussierung auf König Heinrichs Bussgang eine Eigenheit der deutschen Historiographie des 19. Jahrhunderts, während die Zeitgenossen eher die «Canossa» vorausgegangene Exkommunikation des Königs durch den Papst bewegte. Der historiographische Konsens wurde ab 2008 durch den (emeritierten) Frankfurter Ordinarius Johannes Fried gestört, der die traditionelle antagonistische Interpretation des Verhältnisses zwischen Heinrich IV. und Gregor VII. durch das Postulat eines zwischen dem König und dem Papst in Canossa geschlossenen «Friedensbündnisses» herausforderte. Fried, ein unkonventioneller Denker, der Erkenntnisse der Hirnforschung für seine Arbeiten heranzieht, hat gemäss den Worten des Verfassers letztlich gefordert, «Gedächtnis und Erinnerungskritik habe der philolo-gischen Quellenkritik vorauszugehen» (7). Seine Deutungen haben viel von sich reden gemacht und sind auf z. T. dezidierten Widerspruch gestossen.

Ernst-Dieter Hehl, als MGH-Editor der Konzilien Deutschlands und Reichsitaliens im 10./11. Jahrhundert für die historische Kärrnerarbeit geradezu prädestiniert, verfolgt in seinem Diskussionsbeitrag einen anderen Ansatz: Er konzentriert sich mit Bedacht auf Texte, die sich seiner eigenen Umschreibung zufolge «einer erinnerungsgeleiteten sprachlichen Umformung entziehen [...], weil sie in dem Vorgang selbst, von dem sie Zeugnis geben, entstanden sind» (7). Erzählende, d. h. historiographische, Zeugnisse treten gegenüber diesen «dokumentarischen» Quellen zurück und werden höchstens ergänzend betrachtet.
Hehls Untersuchungen setzen mit dem Eid Heinrichs IV. ein, «dem einzigen (erhaltenen) Dokument, welches während der Zusammenkunft von Gregor VII. und Heinrich IV. im Januar 1077 entstanden und von beiden ausgehandelt worden ist» (9–10). Nach der eingehenden grammatikalischen Analyse einer strittigen Stelle kommt Hehl zum Schluss, dass Heinrich in Canossa «weit weniger pures Objekt des Handelns Gregors und der deutschen Opposition sein sollte», als von der Forschung bislang angenommen (22). Sein Fazit: «Das geplante Zusammentreffen von Papst, König, Bischöfen und Grossen im nordalpinen Reich», zu dem es aber nicht mehr kam, «hätte den noch offenen Konflikt zwischen König und Fürsten beenden sollen» (23). Die zweite minutiös untersuchte Quelle ist der Brief, mit dem Gregor die geistlichen und weltlichen Reichsfürsten über die Ereignisse in Canossa in Kenntnis setzte und dabei begründete, weshalb er sich «trotz starker Vorbehalte dazu entschlossen habe, die über Heinrich verhängte Exkommunikation zu lösen» (25) – so dass der mit der Kirche versöhnte König «wieder zu einem anerkannten Verhandlungspartner der Grossen [im Reich] wurde» (26). An diesem Punkt wirft Hehl eine grundsätzliche Frage auf, nämlich diejenige nach der «Rolle», die «den Vorgängen von Canossa überhaupt zukommt»: ein «Zwischenergebnis in einem weiterhin andauernden und prinzipiell noch unentschiedenen Konflikt» oder eine «endgültige Entscheidung» (34)? Der Autor verweist in diesem Zusammenhang auf Johannes Frieds Unterscheidung zweier Konfliktfelder, nämlich (1.) der Auseinandersetzung zwischen Papst und König, die mit der Lösung Heinrichs vom Kirchenbann beigelegt worden sei, und (2.) des andauernden Konflikts des Königs mit seinen deutschen Opponenten. Hehl verwehrt sich gegen eine solch strikte Trennung, führte sich doch Gregor – dem Autor zufolge – ebenso dem honor des mit der Kirche versöhnten Königs verpflichtet wie auch demjenigen seiner deutschen Gegner, die er als Verteidiger des christlichen Glaubens apostrophierte. Auch steht er Frieds These einer grundsätzlichen Friedensbereitschaft Heinrichs und Gregors kritisch gegenüber. Nichts deute in den päpstlichen Briefen aus der zweiten Jahreshälfte 1076 darauf, dass «die Zeit der Bedrängnis bald ein Ende haben werde» (50). Eine allgemeine Befriedung hätte die nicht realisierte Zusammenkunft aller beteiligter Parteien im Reich bringen sollen.
Nach einem Einblick in die historiographischen Deutungen der Ereignisse spricht Hehl das Scheitern von «Canossa» an, also die bereits am 15. März 1077 von Heinrichs fürstlichen Gegnern vorgenommene (und vom Papst erst nachträglich gebillig-te) Erhebung Rudolfs von Rheinfelden zum (Gegen-)König und die erneute Exkommunikation Heinrichs durch Gregor zur Fastenzeit des Jahres 1080, mit welcher der Papst eindeutig Stellung für Heinrichs Gegner bezog. Wir brechen das Referat des zu rezensierenden Bändchens hier ab und kommen zu unserem Fazit: Ernst-Dieter Hehl legt eine ungemein detaillierte, dichte Studie vor, die sich in eine längere Forschungsdiskussion einreiht und deren vielleicht wichtigste Erkenntnis in der Notwendigkeit gründlicher Quellenarbeit liegt.

Zitierweise:
Modestin, Georg: Rezension zu: Hehl, Ernst-Dieter: Gregor VII. und Heinrich IV. in Canossa 1077. Paenitentia – absolutio – honor (MGH Studien und Texte 66), Wiesbaden 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 115, 2021, S. 423-424. Online: https://doi.org/10.24894/2673-3641.00100